wißheit betrachtet. Ganze Siedlungen, ganze Städte und Völ-ker wurden von der Seuche ergriffen und verfielen dem Wahnsinn. Alle waren voll Unrast und verstanden einander nicht; jeder glaubte, in ihm allein sei die Wahrheit beschlos-sen, und quälte sich, wenn er die anderen ansah; er schlug sich gegen die Brust, weinte und rang die Hände. Man wußte nicht, wen man verurteilen und wen man freisprechen sollte; man konnte nicht übereinkommen, was man für schlecht und was man für gut zu halten habe. Man wußte nicht, wen es anzuklagen und wen es zu rechtfertigen galt. Die Menschen töteten in sinnloser Wut. Mit ganzen Armeen zogen sie gegeneinander, aber schon auf dem Marsch begannen diese Armeen sich plötzlich selbst zu zerfleischen; die Reihen ge-rieten in Unordnung; die Krieger stürzten aufeinander los, schlugen und stachen aufeinander ein und bissen und fraßen einander. In den Städten wurde den ganzen Tag Sturm geläutet: man rief alle Einwohner zusammen, aber wer sie rief und weshalb, das wußte niemand, und alle waren in schrecklicher Aufregung. Man gab selbst die gewöhnlichsten Beschäftigungen auf, weil jeder seine Gedanken, seine Ver-besserungsvorschläge vorbrachte, und doch konnte man sich über nichts einigen; die Bestellung der Felder ruhte. Irgendwo rotteten sich Leute zusammen, faßten gemeinsam einen Be-schluß, versprachen, sich nie zu trennen, aber gleich darauf taten sie etwas ganz anderes, als sie eben erst gelobt hatten: sie begannen sich gegenseitig zu beschuldigen, wurden mit-einander handgemein und stachen aufeinander los. Feuers-brünste brachen aus; eine Hungersnot kam. Alle und alles ging zugrunde. Die Seuche nahm zu und breitete sich immer weiter aus. Auf der ganzen Welt konnten sich nur einige we-nige Menschen retten; das waren die Reinen und Erwählten, dazu bestimmt, der Anfang eines neuen Menschengeschlech-tes und eines neuen Lebens zu sein, bestimmt, die Erde zu erneuern und zu säubern; doch hatte niemand je diese Men-schen gesehen, niemand je ihre Worte und Stimmen gehört. Es quälte Raskolnikow, daß diese sinnlosen Fieberphan-tasien in seinen Erinnerungen einen so traurigen, entsetzens-vollen Widerhall fanden und daß er den Eindruck dieser

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