nicht offen, daß die liberalen Ideen und die Naturwissenschaften junge Männer zum Mord und junge Frauen zur Prostitution verführten, aber indirekt vermittle er diesen Eindruck!

Tatsächlich attackierte Dostojewskij in seinem Roman das auch damals vor allem in der Intelligenzija verbreitete Fort-schrittsdenken, die sozialistischen Zukunftsträume, wo westeu-ropäischer Materialismus und Utilitarismus eine eigentümliche Verbindung eingegangen waren. In der Geschichte des Studen-ten Raskolnikow, der das perfekte Verbrechen begehen wollte, um sich selbst zu beweisen, daß er »keine Laus« sei, sondern ein »Auserwählter«, für den die Gesetze der Moral außer Kraft seien, griff Dostojewskij, wie er in seinem Brief an Katkow erläuterte, einige der »unausgegorenen Ideen« an, die damals »in der Luft lagen«. Er zielte dabei insbesondere auf den zu jener Zeit ungeheuer populären Roman N. Tschernyschewskijs Was tun? Am Erzählungen von neuen Menschen (1863) und die darin vertretene Moral des »vernünftigen Egoismus«, die verbunden ist mit den Zukunftsvisionen einer vernunftgeleiteten menschli-chen Gesellschaft nach den Vorstellungen des Fourierschen »utopischen Sozialismus«. Dieses Denken führte er in verschie-denen Spielarten vor: zum einen in dem um seine Überzeugun-gen ringenden Helden, dem Studenten Raskolnikow selbst, den er an diesem Kampf zerbrechen läßt, zum anderen aber verspot-tete er es in der Vulgarisierung bei Lebesjatnikow, dem kleinen Beamten, der seine unausgegorenen Ideen mit missionarischem Eifer zu verbreiten sucht, und in der völligen Pervertierung durch den Opportunisten Luschin. Dostojewskij wollte dieses Denken, indem er es auf die Spitze trieb, in seiner ganzen Inhumanität bloßstellen.

Auch damals waren die Leser jedoch fasziniert von der psy-chologischen Analyse des Verbrechens, einem zentralen Aspekt des Romans. Man bewunderte die Subtilität, mit der der Autor – »der ja selbst Gelegenheit gehabt hatte, Verbrecher aus der Nähe zu betrachten« – den Weg zur Tat Schritt für Schritt aus einem zufälligen kriminellen Impuls heraus beobachtete und den inne-ren Zustand des Täters beschrieb, wie das vor ihm noch keiner getan hatte. Gegen das Etikett eines Psychologen hat sich Dosto-jewskij allerdings gewehrt – er sei ein Realist, das hat er immer

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