Er stand sofort wieder auf.

»Ich habe mich nicht vor dir gebeugt, sondern ich habe mich vor allem menschlichen Leid gebeugt«, sagte er mit einer selt-samen Scheu und ging zum Fenster. »Höre«, fügte er hinzu, als er nach einem Augenblick zu ihr zurückkam, »ich habe heute zu einem Menschen, der mich beleidigt hatte, gesagt, daß er deinen kleinen Finger nicht wert sei ... und daß ich meiner Schwester eine Ehre erwiesen hätte, als ich sie neben dir sitzen ließ.«

»Ach, weshalb haben Sie das gesagt! Und vielleicht gar in Gegenwart Ihrer Schwester?« rief Sonja erschreckt. »Neben mir! Eine Ehre! Ich bin doch ... ehrlos ... Ach, warum haben Sie das gesagt!«

»Nicht deiner Ehrlosigkeit und deiner Sünde wegen habe ich das gesagt, sondern weil du ein so großes Leid trägst. Daß du eine große Sünderin bist, ist richtig«, fügte er fast triumphierend hinzu. »Vor allem bist du deswegen eine Sün-derin, weil du dich vergeblich getötet und preisgegeben hast. Das eben ist das Grauenvolle, das ist so grauenvoll, daß du in diesem Schmutz lebst, den du so sehr haßt, und dabei doch selbst weißt – du brauchst ja nur die Augen aufzu-machen –, daß du damit niemandem hilfst und niemanden vor irgend etwas rettest! So sag mir doch endlich«, stieß er wie besessen hervor, »wie kann sich in dir solche Schmach und Niedrigkeit mit den entgegengesetzten, den heiligsten Ge-fühlen vereinbaren? Es wäre doch richtiger, tausendmal rich-tiger und vernünftiger, kopfüber ins Wasser zu springen und mit einem Schlag allem ein Ende zu machen!«

»Und was wird dann aus ihnen?« fragte Sonja leise; sie blickte ihn schmerzlich an, schien sich aber doch über seinen Vorschlag keineswegs zu wundern.

Raskolnikow sah sie eigentümlich an.

Ihr Blick allein hatte ihm alles gesagt. Offenbar war ihr dieser Gedanke wirklich selbst schon gekommen. Vielleicht hatte sie in ihrer Verzweiflung bereits oft und ernsthaft darüber nachgedacht, wie es wäre, mit einem Schlag ein Ende zu machen, so ernsthaft darüber nachgedacht, daß sein Vorschlag sie nicht im mindesten überraschte. Sie merkte nicht

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