denken; er konnte seine Gedanken nicht konzentrieren, er konnte nur fühlen. An die Stelle der Dialektik war das Leben getreten, und in seinem Bewußtsein mußte er etwas völlig Neues erarbeiten.

Unter seinem Kissen lag das Evangelium. Mechanisch nahm er es zur Hand. Dieses Buch gehörte Sonja; es war dasselbe, aus dem sie ihm die Erzählung von der Erweckung des Lazarus vorgelesen hatte. Zu Beginn seiner Verbannung hatte er ge-glaubt, sie werde ihn mit der Religion quälen, über das Evangelium mit ihm sprechen und ihm das Buch aufdrängen wollen. Doch zu seinem größten Erstaunen redete sie kein einziges Mal davon und schlug ihm auch kein einziges Mal vor, ihm das Evangelium zu geben. Er selbst hatte sie darum gebeten, kurz bevor er krank wurde, und sie hatte es ihm schweigend gebracht. Bisher hatte er es noch nicht geöffnet.

Er schlug es auch jetzt nicht auf, doch ging ihm der Gedanke durch den Kopf: Müssen ihre Überzeugungen denn jetzt nicht auch die meinen sein? Ihre Gefühle wenigstens, ihre Bestrebungen? ...

Auch sie war den ganzen Tag über sehr erregt, und in der Nacht hatte sie sogar einen Rückfall in ihre Krankheit. Aber sie fühlte sich so glücklich, so unerwartet glücklich, daß sie vor ihrem Glück beinahe erschrak. Sieben Jahre, nur sieben Jahre! ... Als ihr Glück begann, waren sie beide in manchen Augenblicken bereit, diese sieben Jahre für sieben Tage anzu-sehen. Er wußte noch nicht, daß ihm das neue Leben nicht geschenkt wurde, sondern daß er es teuer würde erkaufen müssen, daß er später mit einer großen Tat dafür würde zu zahlen haben ...

Doch hier beginnt schon eine neue Geschichte – die Ge-schichte der allmählichen Erneuerung eines Menschen, die Geschichte seiner allmählichen Wiedergeburt, seines allmäh-lichen Übergangs aus einer Welt in die andere, die Ge-schichte seiner Bekanntschaft mit einer neuen, ihm bisher völlig unbekannten Wirklichkeit. Das könnte das Thema für eine neue Erzählung sein – doch unsere Erzählung ist hier zu Ende.

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